19.07.2018
1. Wer in einem Beschäftigungsverhältnis steht, ist sozialversicherungspflichtig, und zwar grundsätzlich auch in der Kranken- und Pflegeversicherung. Überschreitet allerdings das Brutto-Gehalt eine bestimmte Höhe, besteht Versicherungsfreiheit. Diese „Jahresarbeitsentgeltgrenze“ wird jedes Jahr neu festgesetzt. Im Jahr 2018 beträgt sie 59.400 € (für eine bestimmte Personengruppe beträgt sie 53.100 €).
Beginnt ein Beschäftigungsverhältnis, muss der Arbeitgeber eine Prognose treffen, ob die Jahresarbeitsentgeltgrenze in den kommenden 12 Monaten überschritten wird. Ist das der Fall, besteht von vornherein Versicherungsfreiheit. (Es gibt Ausnahmen, die hier nicht behandelt werden.) Die betroffene Person kann (und muss) sich dann privat gegen Krankheit versichern, wenn sie nicht schon Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist und diese Mitgliedschaft freiwillig fortsetzt. Erhöht sich das Gehalt während eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses maßgeblich, tritt Versicherungsfreiheit nicht sofort ein, sondern erst zum Beginn des nächsten Kalenderjahres, und dies auch nur dann, wenn die Prognose für dieses neue Kalenderjahr ebenfalls ein Überschreiten der dann geltenden Jahresarbeitsentgeltgrenze ergibt. Zum Jahreswechsel muss der Arbeitgeber dann erneut prüfen, wie das Beschäftigungsverhältnis hinsichtlich der Krankenversicherung einzustufen ist. Für die Frage der Versicherungsfreiheit ist also eine Prognose wichtig. Als Grundregel gilt, dass in diese Prognose das Arbeitsentgelt einzubeziehen ist, dass mit Sicherheit für die nächsten 12 Monate zu erwarten ist. Dazu wird neben dem regelmäßigen monatlichen Gehalt auch z. B. ein fest vereinbartes 13. Gehalt (etwa im Sinn von „Weihnachtsgeld“) gerechnet. Allerdings soll nach bisheriger Rechtsprechung in die Prognose eine künftig zu erwartende Gehaltserhöhung nicht einbezogen werden, auch wenn sie im Zeitpunkt der Prognosestellung bereits fest vereinbart ist. Vielmehr soll dann zum Zeitpunkt der Gehaltsänderung eine neue Prüfung stattfinden. 2. Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun ein Urteil erlassen, das diese Rechtsprechung möglicherweise abändert. Bisher ist allerdings nur die vom BSG veröffentlichte Mitteilung über die mündliche Verhandlung und den Ausgang bekannt; die vollständigen Entscheidungsgründe werden erst veröffentlicht, wenn auch den Beteiligten des Prozesses selbst das Urteil zugestellt ist. Im entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber eine seiner Angestellten, nämlich die Klägerin des späteren Prozesses, ab 01.01.2013 als versicherungsfrei in der Kranken- und Pflegeversicherung gemeldet, weil sie während des Jahres 2012 mit ihrem Gehalt die Jahresarbeitsentgeltgrenze überschritt und nach der vom Arbeitgeber angestellten Prognose und dem vereinbarten Gehalt diese auch im Jahr 2013 überschreiten sollte. Allerdings war die Arbeitnehmerin schwanger, befand sich ab 22.3.2013 im Mutterschutz und im Anschluss daran in Elternzeit mit Bezug von Elterngeld. Das BSG errechnete, dass die Jahresarbeitsentgeltgrenze des Jahres 2013 „schon wegen des Arbeitsentgeltausfalls aufgrund der Mindestschutzfrist bei Entbindung von zwei Wochen unterschritten“ worden wäre. Deshalb hielt das BSG die vom Arbeitgeber auf die gedachte Fortschreibung des Gehalts für das ganze Jahr gestützte Prognose für unzutreffend. Die Versicherungspflicht habe nicht geendet.Das BSG hat in seinem Terminbericht ausgeführt:
„In die Prognose sind feststehende zukünftige Veränderungen des Arbeitsentgelts einzustellen.“ Wendet man diesen Satz auch auf bereits feststehende künftige Gehaltserhöhungen an, so würde das ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung und die Einleitung einer Änderung bei der Handhabung der Prognose zur Versicherungsfreiheit bedeuten. Allerdings kann das noch nicht sicher ausgesagt werden. Denn nach den Ausführungen des BSG ist es zwar das Ziel der Prognose, „das Jahresarbeitsentgelt möglichst nahe an der Realität für das folgende Kalenderjahr zu bestimmen“. Als Grund hierfür wird aber genannt: „damit Versicherungspflicht bei schutzbedürftigen Personen bestehen bleibt“. Man wird erst den ausführlichen schriftlichen Entscheidungsgründen des Urteils (und möglicherweise auch erst weiteren Entscheidungen) entnehmen können, ob die neue Regel auch sozusagen „in umgekehrter Richtung“ gelten soll, wenn sie gerade zum Ende der Versicherungspflicht führt. Zu erwähnen ist noch, dass es in der Entscheidung nicht nur um die Frage des Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze ging, sondern die Klägerin wünschte die Fortsetzung der Versicherungspflicht statt einer (nur) freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, weil sich dadurch im Hinblick auf Beitragshöhe bzw. Beitragsfreiheit während der Elternzeit ergaben. 3. In der Praxis kommen unterschiedliche Interessen im Zusammenhang mit der Jahresarbeitsentgeltgrenze vor: Es gibt sowohl Versicherte, die die Versicherungsfreiheit anstreben, insbesondere um sich privat krankenversichern zu können. Andere wiederum wünschen die gesetzliche Krankenversicherung – und häufig gerade im höheren Alter oder nach einer Familiengründung eine Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung, die oft nicht mehr möglich ist, wenn man aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschieden ist und das Gehalt so hoch ist, dass Versicherungsfreiheit besteht. Für beide Interessenlagen gibt es verschiedene gesetzliche Regeln und Ausnahmen, die je nach Alter, „Versicherungsbiographie“ und Arbeitsverhältnissen sowie den sonstigen Umständen individuell zu betrachten sind.Ursula Mittelmann