Krankenkasse zur Kostenerstattung für selbstbeschaffte Immunglobulin-Therapie verurteilt 

(Hessisches LSG – L 8 KR 687/18)

26.10.2020

1. Gesetzlich Krankenversicherte erhalten in der Regel ärztliche Behandlungen, Leistungen sonstiger Therapeuten oder Medikamente als „Sachleistung“ direkt von den Behandlern oder Apotheken. Die Vergütung wird zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern abgewickelt. Allenfalls müssen Versicherte eine Zuzahlung tragen.

In Ausnahmefällen muss ein Antragsverfahren durchgeführt werden, zum Beispiel dann, wenn ein Medikament angewendet und von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt werden soll, das für die betreffende Erkrankung arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist („Off-Label-Use“). Um einen solchen Off-Label-Use ging es in dem vom Hessischen Landessozialgericht (LSG)  entschiedenen Fall – zumindest vermeintlich.

Immer dann, wenn eine Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und der Versicherte sie sich auf eigene Kosten selbst beschafft, sind nach § 13 Abs. 3 SGB V diese Kosten „von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war“ – Kostenerstattung.

a) In dem Fall des LSG litt ein 66jähriger Versicherter an einer Sensibilitätsstörung der unteren Extremitäten. Die zunächst diagnostizierte Ganglionitis sollte mittels Immunglobulinen im Rahmen eines Off-Label-Use behandelt werden. Die Krankenkasse lehnte dies ab, weil die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz von Immunglobulinen außerhalb des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsbereichs nicht vorlägen.

Daraufhin ließ der Versicherte sich auf eigene Kosten behandeln und klagte auf Erstattung dieser Kosten.

b) Wie sich aus der Presseinformation des Gerichts entnehmen lässt, ergaben Gutachten, dass eine Fehldiagnose gestellt worden war: Tatsächlich lag eine Erkrankung vor, zu deren Behandlung die Immunglobuline zugelassen waren (Entzündung der Spinalhinterwurzel). Die Behandlung hätte in Kenntnis dieser Diagnose nicht abgelehnt werden dürfen. Da die Krankenkasse aber zum Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung von einer anderen Diagnose ausgegangen war, stellte sie sich auf den Standpunkt, sie habe deshalb die beantragte Kostenübernahme auch nicht zu Unrecht abgelehnt. Deshalb seien auch die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nicht erfüllt.

c) Das hat das LSG nun zurückgewiesen. Der Einsatz von Immunglobulinen sei für die Behandlung der objektiv vorliegenden Erkrankung von Anfang an zugelassen und medizinisch indiziert gewesen. Damit sei die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden. Die Krankenkasse könne sich nicht erfolgreich auf Diagnosefehler von (immerhin ins System der kassenärztlichen Versorgung eingebundenen) Ärzten berufen. Denn das würde – so die Mitteilung über das Urteil in der Presseinformation – „den Verantwortungszusammenhang im System der Gesetzlichen Krankenversicherung ‚auf den Kopf stellen‘“.

Die Krankenkasse muss dem Kläger also die von ihm gezahlten Kosten erstatten.

2. In diesem Zusammenhang ist noch auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zu einer verwandten Kostenerstattungs-Vorschrift hinzuweisen. Das BSG hat den Anwendungsbereich dieser Regelung stark eingeschränkt:

a) Nach § 13 Abs. 3a SGB V müssen die Krankenkassen über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von 3 Wochen nach Antragseingang entscheiden. In Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme eingeholt wird, ist innerhalb von fünf Wochen zu entscheiden. Die Krankenkasse muss den Leistungsberechtigten hierüber unterrichten. Außerdem muss sie den Leistungsberechtigten auch dann „unter Darlegung der Gründe“ benachrichtigen, wenn sie die genannten Fristen nicht einhalten kann. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, dann ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet.

Man spricht hier von einer „Genehmigungsfiktion“ durch Fristablauf.   

b) Während man früher annahm, dass nach Ablauf der Frist ohne rechtzeitige Entscheidung ein Anspruch auf die Versorgung mit der beantragten Therapie oder dem beantragten Medikament entstanden sei, hat der Erste Senat des BSG am 26.05.2020 entschieden, dass durch die Verletzung der Vorschriften über die Fristen und der Informationen hierüber kein eigenständiger Sachleistungsanspruch begründet wird. Vielmehr vermittle die Genehmigungsfiktion dem Versicherten nur „eine vorläufige Rechtsposition, die es ihm erlaubt, sich die Leistung selbst zu beschaffen, und es der Krankenkasse nach erfolgter Selbstbeschaffung verbietet, eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach allgemeinen Grundsätzen der Gesetzlichen Krankenversicherung bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung“. In der Tat müssten Kosten danach auch erstattet werden, wenn der Anspruch nicht hätte genehmigt werden müssen – also bei „materieller Rechtswidrigkeit“ -, sofern der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung „gutgläubig“ insoweit gewesen ist.

Jedenfalls aber kommt die Vorschrift nach dieser jüngeren Rechtsprechung nun nur noch denen zugute, die sich auch tatsächlich auf eigene Kosten die Leistung beschafft haben (Urteil des BSG vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R)!

Kurz darauf hat auch der Dritte Senat des BSG diese Änderung in der Rechtsprechung bestätigt, und zwar gleich in mehreren Entscheidungen vom 18.06.2020.

Darin ging es um die Versorgung mit einem Lymphdrainagegerät (B 3 KR 14/18 R), um die Versorgung mit einem Kompressionstherapiegerät (B 3 KR 6/19 R) und um die Bewilligung einer Sauerstoff-Langzeit-Therapie mit Flüssigsauerstoff (B 3 KR 13/19 R).

c) Dadurch ist die Bedeutung von § 13 Abs. 3a SGB V für Versicherte zwar nicht aufgehoben, aber doch wesentlich eingeschränkt worden.

Insbesondere, wenn Patienten auf eine Versorgung nicht warten können und wenn sie „es sich leisten können“, eine Therapie oder ein Medikament zunächst selbst zu bezahlen, lohnt es sich, zu überprüfen, ob die Fristen eingehalten sind bzw. ob die Krankenkasse entsprechende Erläuterungen und Begründungen abgegeben hat. Denn nur wenn der Patient quasi bereits „in Vorleistung getreten“ ist, hat er noch Chancen auf Erstattung.

d) Zurzeit kann es übrigens bei der Anwendung von § 13 Abs. 3a SGB V auch um die Frage gehen, ob Verzögerungen bei der Entscheidung oder Einholung eines Gutachtens durch die Corona-Pandemie als „hinreichender Grund“ für die Nicht-Einhaltung von Fristen gelten können. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Es dürfte aber auch darauf ankommen, dass die Krankenkasse das in ihrer Information an die Versicherten nachvollziehbar deutlich macht.

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