Freelancer nicht mehr „free“ – Piloten ohne eigenes Flugzeug sozialversicherungspflichtig (BSG Urt. v. 23.04.2024)

Wie der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) am 24.04.2024 berichtet, hat er die Sozialversicherungspflicht eines Piloten bestätigt, der 2015/16 als „Freelancer“ von dem klagenden Unternehmen für das Flugzeug der Unternehmensgruppe beauftragt worden war. Dabei legt das BSG Wert auf die Feststellung, dass die Sozialversicherungspflicht nicht für die gesamte Dauer der Vertragsbeziehungen bestand, sondern nur jeweils für die Einzelaufträge.

Noch im Jahr 2008 hatte das BSG in ähnlichen Fällen Freelancer als selbständig eingestuft.

1. Der Sachverhalt knapp zusammengefasst: Das Flugzeug wurde für Flüge der Mitarbeiter:innen z. B. zum Produktionsstandort des Unternehmens genutzt. Der Pilot (der zum Prozess „beigeladen“ wurde) und das klagende Unternehmen hatten einen „Rahmen-Dienstvertrag über freie Mitarbeit eines Flugzeugführers (Freelance)“ geschlossen, nach dem der Pilot, jeweils für den Folgemonat, Tage benannte, zu denen er Flüge durchführen konnte und wollte. Mit darauf erfolgenden einzelnen Aufträgen seitens der Klägerin wurden diese Aufträge verbindlich. Es bestand ausdrücklich keine Beauftragungspflicht seitens des Unternehmens; der Pilot seinerseits war ausdrücklich berechtigt, Angebote abzulehnen.

Zu den Aufgaben im Fall eines Auftrags gehörten neben der Beachtung aller gesetzlichen und behördlichen Bestimmungen die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung sowie Dokumentation der Flüge, danach u. a. Reinigung und Betankung des Flugzeugs. Es bestand eine persönliche Dienstleistungspflicht. Der Pilot durfte aber auch für andere Auftraggeber tätig werden und tat dies auch. Die Aufträge wurden mit einem Tagessatz von 300 EUR (bzw. bei einem bestimmten genannten Ziel mit 150 EUR) vergütet. Die Zahl der Flüge im Monat war unterschiedlich, durchschnittlich kam man auf 6 bis 7 Flüge.

Unternehmen und Pilot beantragten im August 2016 die Statusfeststellung bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, die eine Selbständigkeit verneinte und Rentenversicherungspflicht annahm.

Das Sozialgericht Marburg hob 2021 den Bescheid der Rentenversicherung auf; der Pilot sei selbständig.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) dagegen nahm im Urteil vom 29.09.2022 zwar eine abhängige Beschäftigung an, ließ aber die Revision zum BSG zu, da dieses in einem ähnlichen Fall mit Urteil vom 28.05.2008 noch die Selbständigkeit von Freelancern angenommen hatte (ebenso wie damals einhellig auch die Gerichte der vorausgegangenen 1. und 2. Instanz).

2. In der „Halbzeit“ bis heute - im Jahr 2016 – hatte das BSG noch einmal über einen Freelancer zu entscheiden, der in 2. Instanz vom LSG Berlin-Brandenburg als sozialversicherungspflichtig angesehen worden war. Mit ihm war allerdings keine auftragsbezogene Vergütung, sondern eine Monatspauschale vereinbart worden; außerdem bestand ständige Dienstbereitschaft; und der Auftraggeber hatte mindestens teilweise Kosten zur Aufrechterhaltung der Fluglizenz übernommen. Somit gab es für diesen Sachverhalt in der Tat deutliche Indizien für eine abhängige Beschäftigung.

Damals ging das BSG (Beschluss vom 19.10.2016) inhaltlich allerdings auf diese Fragen nicht ein, weil es die Nichtzulassungsbeschwerde bereits an formalen Fehlern scheitern ließ.

3. Anhand des aktuellen Prozessergebnisses (und auch schon der Entscheidungsgründe des LSG) lässt sich nun im Vergleich zur Entscheidung aus dem Jahr 2008 beispielhaft zeigen, wie stark die Tendenz der Rechtsprechung der letzten Jahre ist, immer mehr Dienstleistungsverhältnisse der Sozialversicherungspflicht zu unterwerfen.

Bei der Bewertung, ob eine persönliche Abhängigkeit vorliegt, kommt es auf das Gesamtbild an und darauf, ob mehr Merkmale eines Auftragsverhältnisses für oder gegen die abhängige Beschäftigung sprechen. Die Bewertung der Merkmale hat sich anscheinend verändert. Und offensichtliche Merkmale einer Selbständigkeit dürften öfters gering bewertet oder mit „zwar-aber-Aussagen“ entwertet werden. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Betrachtung nur auf den Einzelauftrag gerichtet wird.

  • Im Terminbericht des BSG heißt es kurzerhand, der Wille der Vertragsparteien (hier nach dem Rahmenvertrag: freie Mitarbeit) „ist für die sozialversicherungsrechtliche Einordnung nicht ausschlaggebend“. Im Urteil von 2008 wird auf den in den Vereinbarungen zum Ausdruck kommenden Parteiwillen noch näher eingegangen, wenn ihm allerdings auch dort nicht der Vorrang gebührt. Die Formel lautet, dass die Rechtsbeziehung so maßgeblich ist, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist. Einen Widerspruch zwischen Vereinbarung und Tatsachen stellten die Gerichte damals nicht fest. (Auch das LSG setzt sich mit dem Parteiwillen auseinander.)
  • Das BSG erkennt im aktuellen Terminbericht an, dass dem klagenden Unternehmen gegenüber dem beigeladenen Piloten zwarkein einseitiges Weisungsrecht“ zustand (was zentral für eine Selbständigkeit spricht); nach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben könne sich „die persönliche Abhängigkeit“ aber „auch ohne typische Weisungsabhängigkeit allein aus der Eingliederung in den Betrieb ergeben“. Im Urteil aus 2008 wird eine Eingliederung ausdrücklich ebenso verneint wie eine umfassende Weisungsabhängigkeit. Dabei habe damals das LSG zu Recht außer Acht gelassen, dass nun einmal gewisse „Eckpunkte“ der jeweiligen Aufträge wie „Abflugzeit, Ziel des Fluges, Abflug- und Zielflughafen und zu transportierende Güter bzw. Personen von der Klägerin und der äußere Ablauf durch gesetzliche und (flug)technische Regelungen vorgegeben sind“. Gerade diesen Punkt hat das Hessische LSG jetzt anders beurteilt.
  • Im aktuellen Terminbericht wird eingeräumt, es habe zwar „anders als in einem typischen Arbeitsverhältnis“ keine „ständige Dienstbereitschaft“ bestanden; das sei aber irrelevant, weil die Versicherungspflicht sich nicht auf die Laufzeit der Rahmenvereinbarung erstrecke, sondern nur auf die jeweiligen Einzelaufträge. 2008 wurde das Fehlen ständiger Dienstbereitschaft noch als taugliches Merkmal für die Selbständigkeit angesehen.
  • Aktuell führt das BSG aus, der Pilot sei zwar zulässiger Weise auch für andere Auftraggeber tätig geworden; im Rahmen der Betrachtung der Einzelaufträge (und eben wohl nur so) spreche das aber nicht für Selbständigkeit.
  • Laut jetzigem Ergebnis soll ein „gewichtiges Unternehmerrisiko“ nicht bestanden haben. Das gelte auch für die vom Piloten selbst getragenen mit der Aufrechterhaltung der Flugberechtigung verbundenen Kosten.

Im Jahr 2008 hat das BSG u. a. diese Kosten noch als Indizien für ein Unternehmerrisiko gewertet.

4. a) Sicher gibt es im Vergleich des 2008 entschiedenen Falls mit dem jetzigen Sachverhalt auch Unterschiede. Im Urteil des LSG jedenfalls wird aber nicht erkennbar, dass gerade diese maßgebend für die jetzige Entscheidung zu Gunsten einer abhängigen Beschäftigung wären. Viel mehr spricht dafür, dass LSG und BSG heute das Auftragsverhältnis von als Freelancer tätigen Piloten anders bewerten als vor 16 Jahren, weil sie die Kriterien enger anwenden.

Im Urteil des LSG heißt es durchaus, es sprächen „aufgrund der getroffenen vertraglichen Vereinbarung gewisse Umstände für eine freiberufliche Tätigkeit des Beigeladenen“. An anderer Stelle wird deutlich gemacht, dass das LSG die Situation aber explizit anders beurteilt als das BSG im Jahr 2008.

Davon, ob und gegebenenfalls mit welcher Begründung das BSG selbst jetzt von seiner damaligen Einschätzung abweichen will und also ausdrücklich eine Änderung seiner Rechtsprechung anzeigt, ist im Terminbericht nicht die Rede. Endgültiges wird man erkennen können, wenn das vollständige Urteil des BSG mit Entscheidungsgründen vorliegt.

b) Es entspricht dem Willen des Gesetzgebers, dass Schutzbedürftige nicht im Bereich des Sozialversicherungsrechts in eine prekäre Scheinselbständigkeit gedrängt werden sollen. (So besteht etwa in anderer Weise arbeitsrechtlich auch beim Flugpersonal in unstreitig abhängigen Beschäftigungsverhältnissen das gewerkschaftliche Bestreben, eine Abdrängung in Billig-Tarifverträge zu verhindern.)

Dennoch stellt sich die Frage, ob eine einseitige Auslegung und zu enge Handhabung nicht auch dazu führt, dass immer weniger Raum für die Entwicklung unternehmerischer Modelle bleibt, in denen die Betroffenen selbst für Alter und Krankheit vorsorgen und in deren Rahmen Auftragsverhältnisse flexibler und bürokratieärmer gestaltet werden können, ohne dass das die Verweigerung sozialen Schutzes bedeutet – zumal das Sozialrecht für typischerweise besonders schutzbedürftige Selbständige eine eigene Versicherungspflicht kennt.

Jedenfalls werden Flug-Charter-Unternehmen  ebenso wie Unternehmen, die eigene Flugzeuge nutzen, das Verhältnis zu den von ihnen als Freelancer beauftragten Piloten überdenken müssen. Auch bei Betriebsprüfungen können diese Auftragsverhältnisse von der Rentenversicherung rückwirkend in den Blick genommen werden.

 

Plagemann Rechtsanwälte

Ansprechpartner:innen: 

Dr. Jana Schäfer-Kuczynski, Martin Schafhausen, Prof. Hermann Plagemann

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