Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 07.12.2023 ein Urteil verkündet, mit dem er auf einen Vorlagebeschluss des deutschen Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 24.02.2022 antwortet. Das Urteil enthält Ausführungen auf der Schnittstelle von Arbeitsrecht und Sozialrecht und zugleich auf der Schnittstelle von nationalem (deutschem) und europäischem Recht.
1. In dem zunächst bis zum BAG gelangten Prozess geht es um Folgendes:
a) Eine Gesellschaft (GmbH), die Assistenz- und Beratungsdienstleistungen nach § 78 SGB IX für Menschen mit Behinderungen anbietet (die spätere Beklagte), veröffentlichte im Sommer 2018 ein Stellenangebot. Darin wurden für eine 28jährige Studentin weibliche Assistentinnen in allen Lebensbereichen des Alltags gesucht, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollten.
Auf dieses Stellenangebot bewarb sich eine 50 Jahre alte Frau (die spätere Klägerin) und erhielt von der Gesellschaft eine Absage.
Daraufhin machte sie Entschädigungsansprüche wegen Altersdiskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 15 AGG) geltend: Es sei zu vermuten, dass sie nur auf Grund ihres Alters nicht berücksichtigt worden sei. Dies sei nicht zu rechtfertigen, weil das Alter für ein Vertrauensverhältnis in der Assistenz nicht relevant sei.
Die beklagte Gesellschaft hielt u. a. dagegen, die Assistenz nach § 78 SGB IX (Sozialgesetzbuch 9. Buch) bestehe in einer höchstpersönlichen Alltagsbegleitung in ständiger Abhängigkeit der assistenznehmenden Person und bedeute ständiges Zusammensein. Auch subjektiven Bedürfnissen sei Rechnung zu tragen. Das Alter habe auch damit zu tun, adäquat am sozialen Leben als Studentin an einer Universität teilnehmen zu können. Wünsche bezüglich des Alters seien legitim und angemessen und auch Ausdruck des Persönlichkeitsrechts der betroffenen Person.
b) Das Arbeitsgericht Köln gab der Klage teilweise statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung eines Entschädigungsbetrags in Höhe eines potentiellen Bruttomonatsgehalts an die Klägerin; das Landesarbeitsgericht Köln wies dagegen im Berufungsverfahren die Klage vollständig ab.
c) Nun hat das BAG darüber zu entscheiden.
Es sieht sich in einem „Spannungsfeld“, in dem grundsätzlich beide Betroffene Schutz vor Diskriminierung beanspruchen könnten:
Ziel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist es, Benachteiligungen, u. a. wegen des Alters oder wegen einer Behinderung, zu verhindern. Im Hinblick auf berufliche Anforderungen gibt es davon aber allgemein Ausnahmen. Auch speziell hinsichtlich des Alters kann eine unterschiedliche Behandlung durch angemessene und legitime Ziele gerechtfertigt sein (§§ 1, 7, 8, 10 AGG).
In Bezug auf solche Ziele sind für die Persönliche Assistenz Vorschriften des Sozialrechts einschlägig: Nach § 8 SGB IX in Verbindung mit § 33 SGB I besteht ein „Wunsch- und Wahlrecht“ der Leistungsberechtigten bei Leistungen zur Teilhabe. „Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen“. Und Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX werden ausdrücklich „zur selbstbestimmten und eigenständigen“ Bewältigung des Alltages erbracht.
Das BAG stellt in seinem Beschluss viele Gründe dafür dar, dass ein Mensch mit Behinderung, im Hinblick auf die Persönliche Assistenz, ein ebensolches freies Bestimmungsrecht haben muss wie ein Mensch ohne Behinderung, dem es „unzweifelhaft freisteht, autonom darüber zu entscheiden, mit Menschen welchen Alters das tägliche Leben geteilt werden soll“.
Allerdings sah das BAG keine Möglichkeit, ein entsprechendes Urteil zu sprechen, ohne vorab geklärt zu haben, ob dies im Einklang mit der Rechtslage der EU steht. Deshalb hat es den Rechtsstreit dem EuGH mit der Frage vorgelegt, ob (auch) nach der Gleichbehandlungs-Richtlinie der EU in einem Fall wie dem vorliegenden eine Benachteiligung der Klägerin wegen des Alters gerechtfertigt werden kann.
2. Der EuGH hat, wie auch schon das BAG im Vorlagebeschluss, zunächst den rechtlichen Rahmen abgesteckt, in dem zu entscheiden ist.
Nach den Ausführungen des EuGH besteht kein Zweifel, dass der entschiedene Fall unter die Richtlinie 2000/78/EG fällt und dass die Absage der Gesellschaft an die sich bewerbende Klägerin eine unmittelbare Diskriminierung wegen ihres Alters darstellt.
Dann erfolge aber der weitere Prüfungsschritt, ob eine solche Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden könne. Das sei nach der Richtlinie auch durch nationales Recht möglich. Nach der Rechtsprechung des EuGH habe der Unionsgesetzgeber mit Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie nicht solche einzelstaatliche Maßnahmen verhindern wollen, die in einer demokratischen Gesellschaft für z. B. die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, aber etwa auch zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.
Unter diesem Gesichtspunkt prüft der EuGH sodann die Regelungen des deutschen Wunsch- und Wahlrechts nach § 8 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 33 SGB I und kommt zum Ergebnis, dass diese den Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft konkretisierten. Dieser Anspruch gehöre zu den gemäß Art. 26 der Charta anerkannten Rechten; und ebenso sei die Achtung der Selbstbestimmung auch ein in Art. 19 der UN-BRK verankertes Ziel.
Schließlich sei zu prüfen, ob die Ungleichbehandlung wegen des Alters zum Schutz des Rechts der Person mit Behinderung auf Selbstbestimmung notwendig sei. Der EuGH bejaht diese Frage. Die Persönliche Assistenz berühre die Privat- und Intimsphäre. Die Bevorzugung eines bestimmten Alters zuzulassen sei geeignet, die Achtung des Selbstbestimmungsrechts zu fördern. Es lasse sich „vernünftigerweise erwarten, dass jemand, der derselben Altersgruppe wie der Mensch mit Behinderung angehört, sich leichter in dessen persönliches, soziales und akademisches Umfeld einfügt“.
Abschließend beantwortet der EuGH die Frage des BAG (hier verkürzt) dahingehend, dass Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG nicht entgegensteht, wenn die Einstellung einer Person für die Persönliche Assistenz von einer Altersanforderung abhängig gemacht wird.
(Daraufhin wird nun das BAG endgültig entscheiden können.)
Plagemann Rechtsanwälte
Ansprechpartner (Arbeitsrecht): Martin Schafhausen
Ansprechpartner:innen (Sozialrecht): Martin Schafhausen, Dr. Jana Schäfer-Kuczynski, Prof. Hermann Plagemann