Erwerbsminderungsrente – Gutachten nicht verwertbar, weil mehr als 7 Monate seit Untersuchung vergangen (LSG Baden-Württemberg Urt. v. 14.12.2023)

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat am 14.12.2023 einer Berufung der Rentenversicherung stattgegeben. Sie war vom Sozialgericht Karlsruhe zur Zahlung einer auf drei Jahre befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung verurteilt worden. Das LSG wies die Klage im Berufungsverfahren ab; die Klägerin erhält nun doch keine Rente.

In Verfahren über Erwerbsminderungsrenten spielen fast immer medizinische Fragen eine zentrale Rolle. Das gilt aber ebenso für viele andere Prozesse in der Sozialgerichtsbarkeit. Es werden dann Berichte von Ärzt:innen und Krankenhäusern, sozialmedizinische Stellungnahmen und schließlich meistens Gutachten eingeholt. Insofern ist das hier entschiedene Verfahren in seinen Abläufen zur Klärung medizinischer Fragen relativ typisch. Interessant ist, wie unterschiedlich die erste und die zweite Instanz mit den eingeholten Gutachten umgegangen sind.

1. Die Klägerin wurde nach vielen Jahren Tätigkeit als Maschinenarbeiterin im pharmazeutischen Bereich eines Kunststoffherstellers im September 2018 arbeitsunfähig. Anfang 2019 war sie für mehrere Wochen in einer Reha-Klinik. Deren Entlassungsbericht bescheinigte ihr (aktuell und für den konkreten Beruf) zwar noch eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit, gleichzeitig aber auch eine (gleichsam prinzipielle) Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für mehr als 6 Stunden täglich – und damit Erwerbsfähigkeit. Dies ist ein recht häufiges Ergebnis einer stationären Reha-Maßnahme: Arbeitsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit werden unterschiedlich beurteilt.

Nach einer Knie-Operation und einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie stellte die Klägerin am 19.11.2019 einen Rentenantrag. Ein Gutachten im Auftrag der Rentenversicherung bescheinigte der Klägerin eine Leistungsfähigkeit von mindestens 6 Stunden täglich für leichte Arbeiten.

Auf dieser Grundlage wurde von der Rentenversicherung mit Bescheid vom 03.01.2020 der Rentenantrag abgelehnt und der Widerspruch am 22.10.2020 zurückgewiesen.

2. Im Klageverfahren stützte die Klägerin sich auf vielfältige körperliche und seelische Beschwerden und auch auf eine stark eingeschränkte Gehfähigkeit. Das Sozialgericht holte neben diversen Arztberichten ein nervenärztliches Gutachten ein. Der vom Gericht ausgewählte Sachverständige stellte zwar gesundheitliche Einschränkungen fest, kam aber zum Ergebnis, die Klägerin sei noch „grenzwertig“ in der Lage, leichte Tätigkeiten mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten.

Die Klägerin machte dann von der Möglichkeit Gebrauch, nach § 109 SGG die Einholung eines (weiteren) Gutachtens – nun von einem von ihr ausgewählten Sachverständigen - zu beantragen. Auf diesen Antrag hin beauftragte das Gericht den genannten Sachverständigen. Er untersuchte die Klägerin am 21.07.2022 und erstellte sein Gutachten am 15.03.2023, wonach die Klägerin nur unter 6 Stunden leistungsfähig sei.

Daraufhin verurteilte das Sozialgericht die Rentenversicherung, an die Klägerin eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für drei Jahre zu zahlen. (Dass das Gericht die Klägerin nur als teilweise erwerbsgemindert ansah und die volle Rente wegen der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zusprach - „Arbeitsmarktrente“ -, sei hier nur am Rande erwähnt.)

Das Sozialgericht sah das zweite Gutachten als überzeugend an. Zum ersten Gutachten merkte es an, der Sachverständige habe mit der Formulierung „grenzwertig“ seine eigene Einschätzung einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit entwertet und in Frage gestellt.

3. Der 10. Senat des LSG folgte dem im Berufungsverfahren nicht.

Er hielt das zweite Gutachten schon gar nicht erst für verwertbar, weil zwischen Untersuchung und Erstellung fast acht Monate gelegen hätten.

Man müsse davon ausgehen, dass die Erinnerung von Sachverständigen an Untersuchung und persönlichen Eindruck mit der Zeit verblassten, vor allem wenn Sachverständige mit einer Vielzahl von Probanden zu tun hätten.

Es gebe allerdings keine feste bestimmbare zeitliche Grenze, ab der ein Gutachten nicht mehr verwertbar sei. Fast 8 Monate sei aber jedenfalls zu lang. (Der 8. Senat desselben Gerichts hatte in einem Urteil vom 25.09.2020 einen Zeitraum von etwas mehr als 5 Monaten nicht als schädlich angesehen, L 8 R 2033/19.)

  • Bei der Frage der Verwertbarkeit mache es regelmäßig auch keinen Unterschied, auf welchem Fachgebiet das Gutachten erstellt worden sei (z. B. psychiatrisch oder orthopädisch).
  • Es spiele auch keine Rolle, worauf der Zeitablauf letztlich beruhe und dass die Begutachteten darauf in der Regel keinen Einfluss hätten.
  • Dem Sachverständigen waren vom Sozialgericht mehrfach Fristverlängerungen für sein Gutachten gegeben worden. Nicht erkennbar wird, ob die letzte Fristverlängerung überschritten worden war und ob und welche Bedeutung das LSG den Fristverlängerungen beimisst.
  • Das LSG lässt das für nicht verwertbar erklärte Gutachten nicht ganz unter den Tisch fallen, sondern hält es im Rahmen einer Interessenabwägung für zulässig, gleichwohl „jedenfalls die im Gutachten dokumentierten klinischen Befunde und anamnestischen Angaben (urkundsbeweislich) zu verwerten, wenn die Befundtatsachen ‚unwiederholbar‘ sind“, bezogen auf einen zurückliegenden längeren Streitzeitraum.

Das LSG setzt sich dann noch ausführlich mit Inhalten des Gutachtens sowie mit den anderen im Laufe des Verfahrens eingeholten Gutachten und Arztberichten auseinander und begründet im Einzelnen, warum es den Nachweis einer ausreichend reduzierten Leistungsfähigkeit der Klägerin als nicht erbracht ansieht.

4. Abschließende Anmerkungen

-   Wenn die Überlegungen des LSG auch im vorliegenden Fall dazu führten, dass die Klägerin ihren Prozess verlor, sind diese Überlegungen doch nicht von der Hand zu weisen. Kläger:innen müssen sicher sein können, dass medizinische Sachverständige auf der gesamten Grundlage ihrer Erhebungen entscheiden. Natürlich helfen dabei auch Notizen über einen längeren Zeitraum hinweg; aber letztlich ist eben auch der persönliche Eindruck und die Erinnerung daran wichtig für das Ergebnis.

-   Außerdem führt großer Zeitaufwand bei der Erstellung des Gutachtens zu Verzögerungen der Prozesse, die in der Sozialgerichtsbarkeit ohnehin in der Regel viel zu lange dauern.

-   Zu berücksichtigen ist dabei aber auch, dass in einer Praxis oder im Krankenhaus tätige Ärzt:innen die Zeit für die Begutachtung neben der Zeit aufbringen müssen, die sie für die Behandlung von Patient:innen benötigen. Ihre praktische Erfahrung kann aber von Nutzen sein. Es wäre fragwürdig, wenn aus Gründen der Beschleunigung nur noch reine Gutachtenpraxen beauftragt würden.

-   Den Gerichten kommt die Aufgabe zu, Sachverständigen von vornherein die zeitlichen Anforderungen an die Gutachtenerstattung vor Augen zu führen. Dass das Gericht Sachverständigen für die Gutachtenerstattung eine Frist nicht nur setzen kann, sondern dies tun muss, wurde vom Gesetzgeber Ende 2016 eingeführt. Ein Gericht sollte dann aber nicht nur etwa mit einem Ordnungsgeld drohen und dies festsetzen, sondern es sollte Sachverständigen gegebenenfalls auch ankündigen, dass bei zu später Gutachtenerstattung die Verwertbarkeit des Gutachtens entfallen werde. Das war im vorliegenden Fall offenbar nicht geschehen: Das Sozialgericht hatte sein für die Klägerin positives Urteil ja im Gegenteil ausdrücklich auf das zweite Gutachten gestützt. Dass das LSG dann im Nachhinein die Verwertbarkeit verneinte, ist nicht befriedigend.

Plagemann Rechtsanwälte

Ansprechpartner:innen: 

Dr. Jana Schäfer-Kuczynski, Martin Schafhausen, Prof. Hermann Plagemann 

Cookie-Verwaltung