13.03.2023

BSG: Für Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) ist Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich (Urt. 09.03.2023)

Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich am 09.03.2023 mit zwei Revisionen zu den Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung befasst. Mit Anerkennung des Merkzeichens aG und den damit verbundenen Parkerleichterungen sollen für gehbehinderte Menschen unausweichliche Wegstrecken verkürzt und damit Teilhabemöglichkeiten verbessert werden. Wegen der Begrenztheit des Parkraums werden die Vorschriften seit je von der Rechtsprechung sehr eng ausgelegt.

Mit einer gewissen Vorsicht wird man aber sagen können, dass die beiden jetzigen Entscheidungen des BSG die Erlangung des Merkzeichens aG erleichtern.

Die maßgebliche gesetzliche Regelung findet sich seit 1.1.2018 in § 229 Abs. 3 SGB IX.

Danach muss die „erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung“ einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 entsprechen. Gefordert wird, dass sich die betroffenen schwerbehinderten Menschen „wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können“. Dabei muss es nicht nur um orthopädische Ursachen gehen. Das Gesetz erwähnt vielmehr ausdrücklich auch Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen und kardiovaskuläre Störungen und Störungen des Atmungssystems.

Im einen der beiden Verfahren (B 9 SB 1/22 R) litt der Kläger an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung und einer Herzmuskelschwäche.

Laut Terminbericht vom 10.03.2023 verwies das BSG die Sache zwar zur weiteren Sachaufklärung ans Sächsische Landessozialgericht (LSG) zurück.

Es stellte aber bereits klar, dass zur Prüfung der Mobilitätseinschränkung die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum entscheidend ist und damit die Fähigkeit, ohne Selbstverletzungsgefahr in einem Umfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten zu gehen. (Das LSG hatte schon deutlich gemacht, es komme nicht auf die Fähigkeit an, im idealen Umfeld eines Krankenhausflurs zu gehen.)


Die Ziele des Sozialgesetzbuchs IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) erforderten, „dem Gehvermögen auf dem Weg zur Schule, Arbeitsstätte oder Arzt, beim Einkaufen oder generell beim Besuch von Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, besonderes Gewicht zuzumessen. Denn gerade das Aufsuchen solcher Einrichtungen fördert eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft.“

Im anderen Verfahren (B 9 SB 8/21 R) litt der Kläger an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. Frei gehen kann er nur in vertrauten Situationen in Schule oder häuslichem Bereich. In unbekannter Umgebung benötigt er wegen seiner psychischen Beeinträchtigung jedoch Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf die er sich stützen kann oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss.

Die Behörde hatte das Merkzeichen aG abgelehnt und vertrat in der Revision weiter diese Auffassung: Der Lebensalltag des Klägers werde maßgeblich von Wegen in bekannter Umgebung geprägt. Man dürfe den Beurteilungsmaßstab nicht auf die Gehfähigkeit in fremder Umgebung erweitern.

Auch hier stellte das BSG aber laut Terminbericht auf den öffentlichen Verkehrsraum allgemein ab. Der auf gleichberechtigte Teilhabe gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasse gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen.

Dass der Kläger im Übrigen „ein größeres motorisches Potential wegen seiner geistigen Behinderung nicht abrufen“ könne, hielt das BSG für unerheblich. Da die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch einem GdB von 80 entsprach – was sich bereits aus einem älteren Bescheid ergab -, sprach das BSG dem Kläger das Merkzeichen aG zu.

Plagemann Rechtsanwälte

 

Ansprechpartner:innen:

Dr. Jana Schäfer-Kuczynski, Prof. Dr. Hermann Plagemann

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