Der für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich mit der Frage befasst, in welchem Umfang Kinder im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit (§ 1603 Abs. 1 BGB) zu Unterhaltsleistungen für ihre Eltern nach Inkrafttreten des Angehörigenentlastungsgesetz herangezogen werden können.
Zum Sachverhalt:
Die mehr als 80 Jahre alte Mutter lebte in einer vollstationären Pflegeeinrichtung und konnte die Kosten ihrer Heimunterbringung mit ihrer Sozialversicherungsrente und den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht vollständig decken. Das Sozialamt erbrachte für sie Sozialhilfeleistungen in monatlicher Höhe von rund 1.500 €. Das Sozialamt ist davon ausgegangen, dass der Unterhaltsanspruch der Mutter gegen ihren Sohn auf das Sozialamt bis zur Höhe der erbrachten Sozialhilfeleistungen übergegangen ist. Deswegen nahm das Sozialamt den Sohn auf Elternunterhalt für dessen pflegebedürftige Mutter in Anspruch.
Der Sohn ist verheiratet und bewohnte im fraglichen Zeitraum mit seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau und zwei volljährigen Kindern ein dem Sohn und seiner Ehefrau gehörendes Einfamilienhaus. Das Jahresbruttoeinkommen des Sohnes belief sich im Jahr 2020 auf gut 133.000 €.
Verfahren und Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Das Amtsgericht hat einen Antrag auf Zahlung des Elternunterhalts zurückgewiesen. Die Beschwerde des Sozialhilfeträgers ist vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg geblieben. Das Oberlandesgericht hat das Bruttoeinkommen des Sohnes um Steuern und Sozialabgaben, Unterhaltspflichten für eines der volljährigen Kinder, berufsbedingte Aufwendungen, Versicherungen sowie Altersvorsorgeaufwendungen bereinigt und die unterhaltsrelevanten Nettoeinkünfte des Sohnes mit Monatsbeträgen zwischen 5.400 € und 6.200 € ermittelt. Auf dieser Grundlage hat es den Antragsgegner für nicht leistungsfähig im Rahmen des Elternunterhalts gehalten. Denn der Mindestselbstbehalt beim Elternunterhalt müsse sich nun mit Blick auf § 94 Abs. 1a Satz 1 und 2 SGB XII an dem Nettobetrag orientieren, der sich überschlägig aus einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 € nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben errechnen lasse, so dass ein Mindestselbsthalt von 5.000 € für Alleinstehende und ein Familienmindestselbstbehalt von 9.000 € für Verheiratete als angemessen anzusehen sei.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf die Beschwerde des Sozialamtes hin aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat der BGH ausgeführt: Die vom Oberlandesgericht für vorgesehene Ausrichtung des Mindestselbstbehalts an der Einkommensgrenze des durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz vom 10.12.2019 eingeführten § 94 Abs. 1a SGB XII beruhe auf einem unterhaltsrechtlich systemfremden Bemessungsansatz, dies sei rechtsfehlerhaft.
Zwar werde nach § 94 Abs. 1a Satz 1 und 2 SGB XII der Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger gegenüber solchen Kindern ausgeschlossen, deren steuerrechtliches Jahresbruttoeinkommen 100.000 € nicht überschreitet. Der Gesetzgeber habe aber bewusst darauf verzichtet, die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten der Kinder gegenüber ihren hilfebedürftig gewordenen Eltern zu ändern. Der Umfang der sozialhilferechtlichen Rückgriffsmöglichkeiten könne grundsätzlich nicht für den Umfang der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht maßgeblich sein. Dem Angehörigen-Entlastungsgesetz könne keine gesetzgeberische Wertung entnommen werden, die gebieten würde, den unterhaltspflichtigen Kindern Freibeträge zu gewähren, mit denen der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch der Eltern gegenüber Kindern mit einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 € regelmäßig an der mangelnden unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit scheitern müsste.
Für das weitere Verfahren hat der Bundesgerichtshof aber darauf hingewiesen, dass man an der vom Gesetzgeber durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz geschaffenen Rechtslage Unterhaltsrecht nicht vollständig vorbeigehen müsse. Danach sei es künftig nicht zu beanstanden, wenn dem unterhaltspflichtigen Kind nach Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes ein über die Hälfte hinausgehender Anteil - etwa 70 % - des seinen Mindestselbstbehalt übersteigenden bereinigten Einkommens zusätzlich belassen wird.
Konsequenzen für die Praxis:
Mit der Entscheidung widerspricht der BGH der mehrheitlich seitens der Oberlandesgerichte vertretenen in deren unterhaltsrechtlichen Leitlinien vertretenen Auffassung, dass nach Inkrafttreten des Angehörigenentlastungsgesetzes zum 01.01.2020 und der Einführung der Einkommensgrenze von 100.000 € ein Mindestselbstbehalt im Elternunterhalt nicht mehr festzusetzen ist. Ausdrücklich lehnt der BGH einen unmittelbaren Bezug auf den Grenzbetrag von 100.000 € im Zusammenhang mit der Bestimmung des Selbstbehaltes ab. Das OLG Düsseldorf war in der Vorinstanz (Beschl. v. 04.12.2023 - 3 UF 78/23) ebenso wie das OLG München (Beschl. v. 06.03.2024 – 2 UF 1201/23, anhängig beim BGH - XII ZB 148/24) davon ausgegangen, dass der Maßstab für den Selbstbehalt nach der gesetzlichen Festlegung durch das Angehörigenentlastungsgesetz der Grenzbetrag in Höhe eines Einkommens von 100.000 € ist. Deswegen war ein Selbstbehalt von 5.000 € (Verheiratete 9.000 €) zugrunde gelegt worden, über den hinaus allerdings weiterreichende Absetzungen von dem Nettoeinkommen -abgesehen von Aufwendungen zur ergänzenden privaten Alterssicherung und vorrangigen Unterhaltsverpflichtungen - regelmäßig nicht mehr berücksichtigt werden sollen.
Dem ist der BGH grundsätzlich entgegengetreten. Er betont die Unabhängigkeit der unterhaltsrechtlichen Betrachtungsweise und bezeichnet die Einkommensgrenze des § 94 Abs.1a SGB XII als für das Unterhaltsrecht „systemfremden Bemessungsansatz“. In der Einordung, dass die Regelungen des Angehörigenentlastungsgesetzes die unterhaltsrechtliche Betrachtung nicht beeinflussen, bleibt der BGH allerdings nicht ganz konsequent. Es wird dann doch eingeräumt, dass der Gesetzgeber für die Angehörigen pflegebedürftiger Menschen mehr finanzielle Freiräume schaffen wollte. Allerdings wohl in erster Linie mit Blick auf die deutlich ansteigenden Pflegekosten und den damit auch ansteigenden Unterhaltsbedarf bei Pflegebedürftigkeit wird eine Anhebung des dem Unterhaltsverpflichteten zu belassenden Anteils des Einkommens über dem Selbstbehalt als vertretbar angesehen. Hierzu sollen ab Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes dem unterhaltspflichtigen Kind an Stelle des bisherig zugebilligten 50 %-Anteils nunmehr 70 % des über dem Mindestselbstbehalt liegenden bereinigten Einkommens belassen werden.
Der BGH hält damit an seiner Rechtsprechung vor Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes fest. Als Konsequenz sind die vom BGH entwickelten komplexen Berechnungsgrundlagen für die Ermittlung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit in den Fällen des Elternunterhalts weiter anzuwenden, wenn das steuerliche Bruttoeinkommen eines Kindes den Grenzbetrag von 100.000 € übersteigt.
Als weitere Konsequenz aus der Entscheidung des BGH sind nunmehr alle Oberlandesgerichte aufgerufen in ihren Leitlinien wieder einen Mindestselbstbehalt für den Elternunterhalt festzulegen. Soweit die Festlegung eines Mindestselbstbehaltes auf einen Betrag von 2.650 € (für 2024) durch einzelne Oberlandesgerichte erfolgt ist (Leitlinien der Oberlandesgerichte Braunschweig, Dresden, Koblenz, Rostock und Schleswig) formuliert der BGH dagegen keine durchgreifenden Bedenken.
Plagemann Rechtsanwälte
Ansprechpartner: Prof. Dr. Frank Ehmann