12.02.2025

BAG: Kein „böswilliges Unterlassen“ anderweitigen Verdienstes während Freistellung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 12.02.2025 zu Gunsten eines Arbeitnehmers entschieden, dem vom Arbeitgeber für den letzten Monat des gekündigten Arbeitsverhältnisses die Gehaltszahlung von 6.440 Euro brutto verweigert worden war (5 AZR 127/24).

Der Arbeitgeber hatte Ende März 2023 eine ordentliche fristgerechte Kündigung zum 30.06.2023 ausgesprochen und den Arbeitnehmer („Senior Consultant“, Data Engineering) gleichzeitig unter Anrechnung von Urlaub unwiderruflich von der Erbringung zur Arbeitsleistung freigestellt. Gegen diese Kündigung erhob der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage; der Kammertermin vor dem Arbeitsgericht hierüber wurde auf den 29. Juni 2023 anberaumt.

Ab 12. Mai 2023 sandte der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Vielzahl von Jobangeboten anderer Arbeitgeber zu, auf die er sich bewerben solle. Mit solchen Bewerbungen begann der Arbeitnehmer (erst) Ende Juni 2023. Dies nahm der Arbeitgeber zum Anlass, ihm das Gehalt für Juni mit folgender Begründung nicht auszuzahlen: Der Arbeitnehmer müsse sich auf den Gehaltsanspruch einen fiktiven anderweitigen Verdienst im Juni anrechnen lassen, den er bei früherer Bewerbungsaktivität hätte erzielen können; solche früheren Bewerbungen habe er böswillig unterlassen.

Der Arbeitnehmer erhob Klage auf Zahlung des Juni-Gehalts.

Das Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen wies diese Klage ab. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg gab der Berufung des klagenden Arbeitnehmers dagegen statt und verurteilte den beklagten Arbeitgeber zur Gehaltszahlung zuzüglich Zinsen, ließ aber die Revision zum BAG wegen der grundsätzlichen Bedeutung zu.

Das BAG hat die Verurteilung des Arbeitgebers zur Gehaltszahlung bestätigt und ihm auch die Kosten des Verfahrens auferlegt.

 

Anmerkungen 

1. Das BAG hat hier in einem Teilbereich Klarheit für eine Standardsituation geschaffen, wie sie gerade während Kündigungsschutzverfahren immer wieder vorkommt:

Erheben Arbeitnehmer:innen nach einer Kündigung eine Kündigungsschutzklage, muss das Arbeitsgericht zunächst möglichst zeitnah einen „Gütetermin“ anberaumen, um Einigungsmöglichkeiten auszuloten. Dabei ist das Arbeitsgericht nur mit einem Berufsrichter oder einer Berufsrichterin besetzt. Einigen sich die Streitparteien in diesem Termin nicht, findet – in der Regel erst deutlich später, je nach der Belastungssituation am Gericht - ein „Kammertermin“ statt, in dem eine Entscheidung getroffen werden kann. Zur Kammer gehören neben der Berufsrichterin oder dem Berufsrichter (Vorsitz) nun auch noch zwei Laienrichter:innen je aus dem Lager von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen.

Nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts besteht die Möglichkeit, dass sich - wie im vorliegenden Fall - auch noch eine Berufungsverfahren anschließt und eventuell sogar eine Revision. Der Streit kann sich also lange hinziehen. Während der Dauer des Prozesses besteht eine Art Schwebezustand, in dem die Parteien noch nicht wissen, ob sich die Kündigung endgültig als wirksam erweist oder nicht.

Spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist wird die Arbeitnehmer:in nicht mehr beschäftigt und erhält auch kein Gehalt mehr. Das bedeutet für beide Seite Unwägbarkeiten:

  • Für Arbeitgeber:innen ist das Risiko groß, dass sie für den gesamten Zeitraum Gehalt nachzahlen müssen, falls die Kündigung in letzter Instanz vom Gericht als unwirksam angesehen wird. Denn dann bestand in der Zwischenzeit „Annahmeverzug“: Während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses muss die Arbeitsleistung erbracht und im Gegenzug vergütet werden. Wird die mögliche Arbeitsleistung aber nicht angenommen, besteht gleichwohl Vergütungspflicht, ohne dass Arbeitnehmer:innen zur Nachleistung verpflichtet sind.
  • Für Arbeitnehmer:innen ist es riskant, auf den Erfolg der Kündigungsschutzklage und eine Nachzahlung wegen des Annahmeverzugs zu vertrauen, ohne eine anderweitige Arbeit aufzunehmen: Hat die Klage letztlich keinen Erfolg und wurde zwischenzeitlich auch kein anderer Arbeitsverdienst angestrebt und erzielt, bleibt der vergangene Zeitraum ohne Einkommen (abgemildert allenfalls durch etwaiges Arbeitslosengeld).

Dieses Risiko im Zusammenhang mit dem Annahmeverzug verringert sich für Arbeitgeber:innen durch die Regelung in § 615 Satz 2 BGB: Danach müssen sich Arbeitnehmer:innen auf ihren Gehaltsanspruch aus Annahmeverzug zum einen das anrechnen lassen, was sie ersparen (z. B. Fahrtkosten zur Arbeit), und zum anderen und vor allem, was sie anderweit mit ihrer Arbeitskraft verdienen – wenn sie also vorübergehend oder dauerhaft eine andere Stelle annehmen und dort Lohn beziehen.

Und selbst wenn Arbeitnehmer:innen keinen Verdienst aus einer anderen Tätigkeit haben, kann ihr Anspruch aus Annahmeverzug reduziert werden oder entfallen, wenn sie nämlich eine solche andere Tätigkeit „böswillig“ unterlassen.

Um ihr Nachzahlungsrisiko zu verringern, können Arbeitgeber:innen den gekündigten Arbeitnehmer:innen Stellenangebote unterbreiten, wie das auch vorliegend geschehen ist. (Eine andere Möglichkeit ist, dass Arbeitgeber:innen eine vorübergehende weitere Tätigkeit bei sich selbst anbieten: „Prozessarbeitsverhältnis“.) 

2. Vorliegend ging es darum, dass der beklagte Arbeitgeber fiktives Einkommen aus einer anderen Tätigkeit nicht erst nach Ende des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf der Kündigungsfrist auf das von ihm geschuldete Gehalt anrechnen wollte, sondern schon während des letzten Monats des noch laufenden Arbeitsverhältnisses.

Folgende Argumente trug der klagende Arbeitnehmer hiergegen u. a. vor:

  • Von den angebotenen Stellen sei keine einzige befristet angeboten worden.
  • Ihm gehe es vor allem darum, die bisherige Stelle zu behalten; daher sei die Eingehung eines Dauerarbeitsverhältnisses anderswo problematisch und ihm auch nicht zumutbar.
  • Das gelte erst recht, weil das Arbeitsgericht im Kündigungsschutzverfahren noch keine Entscheidung getroffen habe.
  • Ein anderer Arbeitgeber müsse auch nicht dulden, dass er sich wegen des fortbestehenden alten Arbeitsverhältnisses quasi in einer Konkurrenzsituation der beiden Arbeitgeber befinde.
  • Er müsste einen potenziellen Stellenanbieter auch darauf aufmerksam machen, dass er sich bei Erfolg der Kündigungsschutzklage kurzfristig wieder aus dem neuen Arbeitsverhältnis werde lösen wollen.
  • Es sei im Übrigen lebensfremd, dass er bei Bewerbungen im Mai 2023 überhaupt schon ab 1. Juni anderswo eingestellt worden wäre.
  • Erste Stellenangebote von der Arbeitsagentur habe er sogar erst im Juli 2023 erhalten.

Das LAG setzte sich ausführlich mit den Klägerargumenten auseinander. Es wollte keine generelle Aussage für die Dauer des Kündigungsschutzstreits treffen. Aber im vorliegenden Fall lag der Kammertermin (29.06.2023) noch innerhalb der Kündigungsfrist (30.06.2023). Darauf legte das LAG den Schwerpunkt. Deshalb habe es im berechtigten Interesse des Klägers gelegen, die Gerichtsentscheidung in diesem Termin abzuwarten. Es wäre unzumutbar für ihn gewesen, schon vorher mit Bewerbungen zu beginnen. Hinzu kamen weitere Gesichtspunkte. So habe auch nicht zugemutet werden können, dass der Kläger sich möglicherweise um Chancen für eine (nochmalige) spätere Bewerbung gebracht hätte, wenn Stellenanbieter zu frühe Bewerbungen als sinnlos empfunden hätten.

3. Wie sich aus der Pressemitteilung des BAG ergibt, hat dieses nicht auch auf den Zeitpunkt des Gerichtstermins, sondern allein auf den Ablauf der Kündigungsfrist abgestellt. Die fiktive Anrechnung nicht erworbenen Arbeitsverdienstes wäre danach nur zu rechtfertigen gewesen, wenn es dem beklagten Arbeitgeber unzumutbar gewesen wäre, den Kläger noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zu beschäftigen, wie es dessen Beschäftigungsanspruch entsprach – statt ihn freizustellen. Zu einer etwaigen Unzumutbarkeit habe der beklagte Arbeitgeber aber nichts vorgetragen. Die Obliegenheiten des Arbeitnehmers könnten nicht losgelöst von den Pflichten des Arbeitgebers beurteilt werden.

Folglich bestand für den Arbeitnehmer „keine Verpflichtung, schon vor Ablauf der Kündigungsfrist zur finanziellen Entlastung der Beklagten ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis einzugehen und daraus Verdienst zu erzielen“.

Nebenbei: Die Kündigungsschutzklage des Klägers hatte am 29.06.2023 vor dem Arbeitsgericht und am 11.06.2024 auch im Berufungsverfahren vor dem LAG Erfolg gehabt. Im hier vorliegenden Prozess war es aber von vornherein nur um das Juni-Gehalt 2023 gegangen. Ob das Urteil des BAG eventuell auch Überlegungen zu etwaigen Ansprüchen nach Ablauf der Kündigungsfrist hergibt, wird man erst den später veröffentlichten vollständigen Entscheidungsgründen des Urteils entnehmen können.

Plagemann Rechtsanwälte


Ansprechpartner:innen:

Martin Schafhausen; Katja Baumann-Flikschuh; Leah Weiss

Cookie-Verwaltung