Abgrenzung Beschäftigung - Selbstständigkeit im Sozialrecht:

Präsident des BSG ruft zu zeitgemäßer Klärung auf

23.07.2018

1. Seit langem beobachten wir in der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit die Tendenz, Erwerbsarbeit in allen möglichen Ausprägungen dem Typus der „abhängigen Beschäftigung“ zuzuordnen und damit der Sozialversicherungspflicht zu unterwerfen, auch wenn das Selbstverständnis der Betroffenen dahin geht, „unternehmerisch“ tätig zu sein und als Selbstständige nach eigenem Ermessen für die soziale Sicherung im Alter oder im Krankheitsfall zu sorgen.

- Das jüngste Beispiel ist die Rechtsprechung, wonach Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH als abhängig beschäftigt und sozialversicherungspflichtig anzusehen sind, wenn sie nicht mindestens 50 % der Gesellschaftsanteile halten (und wenn keine Sonderregelungen, wie die Vereinbarung von Sperrminoritäten gelten).

- Ein weiteres Beispiel ist die Feststellung, dass Pflegekräfte in aller Regel nicht als selbstständig angesehen werden, auch wenn sie ihre Dienste Krankenhäusern und Pflegeheimen zu Honoraren anbieten, die weit über der Entlohnung angestellter Pflegekräfte liegen – und wenn diese Einrichtungen auf dem Arbeitsmarkt bekanntlich kaum Fachkräfte finden, die sie sozialversicherungspflichtig einstellen könnten.

2. Wird die Einstufung als abhängig beschäftigt erst im Rahmen von sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfungen durch die Rentenversicherung entgegen dem Selbstverständnis der Betroffenen rückwirkend festgestellt, kann das bei den nun als „Arbeitgeber“ eingestuften Auftraggebern zu horrenden Beitragsnachforderungen führen. GmbHs, Krankenhäuser und Pflegeheime können ein Lied davon singen.

3. Ungeachtet der Entscheidungen der Sozialversicherungsträger und der Rechtsprechung in Einzelfällen wird die soziale Absicherung aller Erwerbstätigen und vor allem der „kleinen Selbstständigen“ seit Jahren politisch diskutiert. Eine alle umfassende „Erwerbstätigenversicherung“ existiert bis heute nicht. Auch der Koalitionsvertrag der derzeitigen Koalition hat sich das Thema der sozialen Sicherung von Erwerbsarbeit vorgenommen.

4. In dieser Situation hat der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), Prof. Dr. Rainer Schlegel, das Thema im Editorial der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Sozialgerichtsbarkeit“ als dringend klärungsbedürftig angesprochen.

Er macht ganz deutlich, dass er sich vom Gesetzgeber zeitnah Lösungen nicht erhofft. Im Jahr 2017 ist in einer arbeitsrechtlichen Regelung (§ 611a BGB) ein Definitionsversuch für Arbeitsverträge unternommen worden. Hier ist nach Auffassung Schlegels die notwendige sozialrechtliche „zukunftsgerichtete“ Klärung versäumt worden.

Schlegel stellt die Veränderungen der Arbeitswelt und der Erwerbsbiografien in entscheidenden Punkten dar (vor allem „Hybridisierung“, Computerisierung, weltweites Datennetz, die Regulierung von Berufsbildern, Ausweitung des Dienstleistungssektors, Verschärfung des Wettbewerbs mit der Fragmentierung von Wertschöpfungsketten, Intellektualisierung vieler Arbeitsaufgaben, Veränderung der Einstellung zur Arbeit).

Durch diese Veränderungen verlören bisherige Abgrenzungskriterien, wie eine Arbeit nach Weisung des Arbeitgebers hinsichtlich Art, Zeit und Ort der Tätigkeit, an Bedeutung. Auch wegen zunehmender Spezialisierung schieden Weisungen oft von vornherein aus. Verschiedene Erwerbsformen wechselten sich ständig, auch kurzfristig und kurzzeitig, ab. Rechtsprechung und juristische Fachwelt seien „aufgerufen, diese Phänomene im Rahmen des Typus Beschäftigung fruchtbar zu machen“.

Den Gerichten weist Schlegel die Aufgabe zu, „herauszufinden, weshalb in bestimmten Bereichen das traditionelle Bild des abhängig Beschäftigten verlassen wird“. Man müsse die Motive klären, Arbeit in Form von „Honorarverträgen“ erbringen zu lassen oder erbringen zu wollen.

Die Revisionsinstanz - also das BSG - benötige für die immer schwieriger werdende Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit „das geeignete Material“.

Schlegel sieht also die Herausforderung und ist sozusagen „entscheidungswillig“.

Er fordert aber über die ureigene Aufgabe der richterlichen Tätigkeit hinaus, dass „die Expertise der Richterinnen und Richter“ auch in der rechtspolitischen Diskussion um die Zukunft der Arbeit und Erwerbstätigkeit „sowie ihrer sozialrechtlichen Verankerung“ berücksichtigt wird. Das wiederum ist zum jetzigen Zeitpunkt mit Skepsis zu betrachten, weil die Rechtsprechung mitunter doch Vorstellungen von der Arbeitswelt dokumentiert, die lebensfremd und fern jeglichen Praxisbezugs anmuten.

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